Geschichte des Tages
Geschichte: Die San-Buschmänner der Kalahari, von Evan McGown
( Coyote-Guide, Buch 2 - Handbuch der Aktivitäten, Seite 10)
​
In der Kalahari-Wüste in Südafrika lebt eines der letzten Jäger- und Sammler-Völker der Erde: die San-Buschmänner. Manche von ihnen ernähren sich noch immer ausschließlich von Tieren, die sie jagen, und den wild wachsenden Wurzeln und Pflanzen, die sie sammeln. Der Erfolg ihrer Jagd liegt in ihrem unglaublichen Wissen über die Natur, insbesondere in der Kunst des Spurenlesens. Wenn die San eine Spur sehen, können sie daraus lesen, ob sie von einem männlichen oder weiblichen Leoparden hinterlassen wurde, wann er sie gemacht hat und in welchem Gesundheitszustand er sich dabei befand. Diese Fähigkeiten sind durch lange Stunden des Spurenlesens entstanden - und auch durch Hunger: Wer keine Spuren lesen kann, bekommt auch kein Fleisch.
​
​
​
​
​
​
​
​
Jetzt stellt euch vor, ihr seid auch Buschmänner und macht euch mit Pfeil und Bogen auf die tägliche Jagd. Ihr findet die frische Fährte eines Steenbok, dass ist eine afrikanische Zwergantilope, und lauft auf leisen Sohlen neben der Spur her, den Blick nach vorne gewandt, um vorauszusagen, welche Richtung das Tier eingeschlagen hat. Ständig lauscht ihr auf die Vögel, denn ihr wisst, dass sie euch vor den Löwen, Wasserbüffeln und anderen gefährlichen Tieren warnen.
​
Schließlich holt ihr den Steenbok ein, aber er ist kräftig und munter und springt leichtfüßig davon. Einige Stunden sind bereits vergangen, seit ihr am Morgen vom Dorf aufgebrochen seid, und ihr wisst, dass ihr auf jeden Fall vor Einbruch der Dunkelheit wieder zurück sein müsst, denn die Nacht gehört den Löwen, Leoparden und Hyänen.
Zurück im Dorf sitzt ihr mit all euren Freunden und Verwandten ums Feuer und erzählt die Geschichte eurer erfolglosen Jagd. Ihr erwähnt alle Spuren, die ihr unterwegs gesehen habt - Stachelschwein, Leopard, Nashorn, Adler, Eule - und während ihr erzählt, durchlebt ihr euren Tag noch einmal, Nachdem ihr geendet habt, erzählt ein anderer Jäger die Geschichte seines Tages, er war in einem anderen Gebiet auf Jagd und beschreibt ebenfalls detailliert die Spuren und Pflanzen, denen er unterwegs begegnet ist. Auch ihm war das Glück nicht hold; kein Fleisch. Dann berichten wieder andere von einer Stelle voller Wurzelgemüse, die sie heute beim Spielen entdeckt haben, und reichen euch ein paar davon. Während ihr esst, beschreiben sie euch die Spuren, die sie auf dem Weg dorthin gefunden haben, und fragen nach eurer Meinung. Stellt euch nur einmal vor, wie viel diese Menschen voneinander lernen.
​
Dann, gerade als die Sonne hinter dem Horizont verschwindet, kehrt ein weiterer Jäger ins Dorf zurück. Er trägt ein kleines, rehähnliches Tier auf seinen Schultern. Seine Jagd war erfolgreich.
Er hat Fleisch mitgebracht. Es wird geteilt, und alle sind glücklich. Dann kommt der Zeitpunkt, da er die Geschichte seiner Jagd erzählt, und alle lauschen gespannt. Er berichtet, wie sich die Spuren veränderten, als er das Tier verfolgte, wie es versuchte, sich vor ihm zu verstecken, was das Tier gefressen hatte, und schließlich, wie er sich daran anpirschte, seinen Pfeil abschoss, dann den Spuren folgte bis zu der Stelle, an der das Tier sich für seine letzte Ruhe niedergelegt hatte.
​
Evan McGown hat selbst schon Filme über diese Jäger gesehen, wie sie die Bewegungen der Tiere nachtanzen, von denen sie erzählen, und auch ihre eigenen Schritte - ihr Körper erweckt die Geschichte zum Leben, während sie sie nachspielen.
​
Das wiederholt sich immerzu: tagsüber spurenlesen, erkunden, jagen Pflanzen sammeln, dann zurückkehren und am abendlichen Feuer die Geschichten miteinander teilen.
Manche Geschichtenerzähler spielen ihre Geschichte vor, andere wiederrum erzählen sie auf eine stillere Art und Weise, aber für gewöhnlich lachen alle viel, essen und erzählen Gesichten, bis es Zeit zum Schlafengehen ist. Indem sie sich jeden Abend gegenseitig die Geschichten ihrer Erlebnisse mitteilen, profitieren alle von den Abenteuern der anderen.
​
Tagsüber Abenteuer erleben und sich am Abend treffen und Geschichten austauschen.
Kurzanleitung zur Geschichte des Tages:
​
Förmlich oder ungezwungen. Machen Sie jedes Mal, wenn man zusammenkommt, die "Geschichte des Tages" zu einer bewussten Routine machen. Das kann so förmlich oder ungezwungen ablaufen, wie man es möchte. In der eben beschriebenen Geschichte war es eher eine formelle Sache, die ganze Gemeinschaft versammelt sich ums Feuer. Im Rahmen einer Natur- und Wilndisausbildung kann man zusammenkommen, wenn man ein eigenes Abenteuer erlebt hat und dies miteinander teilen.
​
Man kann zum Beispiel auch beim Mittagessen einen gemeinsamen Kreis bilden oder sich im Kreis versammeln, bevor man nach Hause geht. Es kann aber auch völlig formlos ablaufen, beispielsweise wenn sich Leute unterwegs unterhalten.
​
Diese Variante funktioniert in der Tat sogar oftmals besser, da die Kursteilnehmer so keinen Druck verspüren, etwas sagen zu müssen, und die Geschichten ganz natürlich aus ihnen herausfließen. Man sollte nur versuchen zu verhindern, dass solche beiläufigen Gespräche in Klatsch und Tratsch oder die Welt der Fernsehsendungen abdriftet.
​
Gemeinsamer Kreis:
​
Für gewöhnlich bietet ein gemeinsamer Kreis einen guten Rahmen, um die "Geschichten des Tages" miteinander zu teilen. Im Kreis können alle einander sehen und hören. Die Leute können ihre Geschichten entweder nacheinander erzählen oder im "Popcorn-Stil", wo jeder spricht, der gerade etwas beizutragen hat. Wenn man die Teilnehmer einer größeren Gruppe in mehrere Kleingruppen unterteilt hat, kann jede Gruppe von einer Person repräsentiert werden, welche die Geschichte der Gruppe vorträgt, und die restlichen Gruppenmitglieder können die Geschichte mit Details ergänzen.
​
Redestab:
​
Zuweilen hilft es, einen Gegenstand zuhaben, den man im Kreis herumgibt - derjenige der ihn in der Hand hält, ist an der Reihe zu sprechen. Dieser Gegenstand kann alles mögliche sein, ein Fichtenzapfen, ein Stöckchen oder ein Stein, den man sich für diese Sache gesucht hat, oder ein verzierter, in Ehren gehaltener "Redestab", der im Naturmuseum aufbewahrt und für den gemeinsamen Kreis hervorgeholt wird. Man kann ihn auch "Redestein" nennen, oder noch besser "Hörstein". Wer immer ihn in der Hand hält wird zu der Person, der alle anderen zuhören.
​
Erzählen und Zuhören:
​
Man sollte auf jeden Fall selbst ein Vorbild für dramatisches, farbenfrohes, alle fünf Sinne umfassendes Geschichtenerzählen sein - nicht nur, um ihre eigenen Fähigkeiten auszubauen, sondern auch, um die selbstbewussteren, ausdrucksstarken Leute aus der Reserve zu locken.
​
Zum guten Geschichten erzählen, gehört aber auch gutes Zuhören. Darum sollte man ein Vorbild sein und dass aufmerksame Zuhören üben, durch dass jede einzelne Stimme gewürdigt wird.
Schwerpunktfragen:
​
Um das Erzählen in Gang zu bringen und dass überwältigende Gefühl von "Ich habe keine Ahnung was ich sagen soll" zu entschärfen, kann man das Ganze mit einer spezifischen Frage eingrenzen: "Was hat euch am besten gefallen?" "Gibt es eine spezielle Sache, die ihr heute gelernt habt?" "Von welchem Vogel habt ihr heute einen Warnruf gehört?" "Ist heute etwas passiert, über dass ihr lachen musstet?" "Worüber habt ihr heute am meisten gelacht?"
Im Geist des Mentors
​
Wenn Menschen persönliche Geschichten ihres Tages miteinander teilen, drücken sie dadurch sich selbst aus, ihre Kreativität und ihre eigene Lebenserfahrung. Die Gültigkeit ihrer Erfahrungen wird bekräftigt, ihr Selbstbewusstsein wächst, sie finden ihre eigene Stimme und auch die Grenze ihres Wissens und werden inspiriert, weiter nach draußen zu gehen und mehr zu lernen.
Varianten:
​
Kartieren: Kartieren ist eine ideale Ergänzung zu den "Geschichten des Tages. Man zeichnet auf eine Tafel oder Flip-Chart eine Karte, in der man den Ort eines jeden Ereignisses markiert. Dadurch werden alle Kundschafter dazu angeregt, noch einmal die gesamte Landschaft vor ihrem geistigen Auge zu sehen und sich vorzustellen, wie sich ihre eigene Geschichte in den größeren Zusammenhang einfügt.
​
Naturtagebuch führen: Die niedergeschriebenen "Geschichten des Tages" wachsen bei Jugendlichen und Erwachsenen zu fantastischen Sammlungen an. Bei jüngeren Kindern kann durch Dikiteren oder Malen nachgeholfen werden.
​
Über die Geschichte hinaus: Wenn die Gruppe keine Probleme mit dem Erzählen hat, kann man sie dazu animieren, ihre "Geschichte des Tages" in einem Lied oder einer Geschichte auszudrücken. Man kann die Geschichten auch in einem Sketch vorspielen, was urkomisch sein kann. Man kann die Leute auch bitten, etwas zu sammeln oder zu fangen, um es den anderen zu präsentieren und eventuell dem Naturmuseum hinzuzufügen.
​
Bestimmungsbücher: Die "Gesichten des Tages" bilden auch den perfekten Rahmen, um Bestimmungsbücher zu erforschen, die gefundenen Dinge zu identifizieren, Fragen nachzugehen und unverweigerlich neue Sachen zu finden, nach denen man sich unbedingt bei der nächsten Gelegenheit umsehen muss.
​
Kurzversion: Wenn Ihnen die Zeit davonrennt, bilden Sie einen Kreis, in dem alle nacheinander in einem Wort (oder zwei oder drei) sagen, was sie heute gelernt haben oder wofür sie dankbar sind.